Tag 15
Bagnols-les-Bains – Meyrueis
114 km 1938 hm



Falls der Bericht des gestrigen Tages etwas depressiv oder fatalistisch angesichts der anhaltend schwierigen Wetterbedingungen ausgefallen sein sollte, so möchte ich versichern, dass dem (noch) bei weitem nicht so ist. Zwar geht mir dieses Wetter inzwischen etwas auf den Zeiger, aber bis auf die zwei Tage Dauerregen darf ich eigentlich nicht jammern. Aber vielleicht macht mich auch nur die Tatsache, dass es mit Riesenschritten auf das Ende der Fahrt zugeht und ich nicht weiß, wann ich die Cevennen noch einmal besuchen werde, etwas melancholisch. Denn inzwischen bin ich doch schon viele Straßen in meiner persönlichen Lieblingsregion abgefahren und es wird zunehmend schwieriger, noch unbekannte Routen zu finden. Man wird sehen, ob ich es bei meinen zukünftigen Urlaubsplanungen vorziehe, neue Regionen zu entdecken oder doch wieder in die Cevennen zurückkehre.....

Der Beginn des heutigen Tages schlägt leider schon wieder gewaltig auf die an sich positive Grundstimmung. Als ich gegen 7.30 Uhr aufwache, nieselt es leicht, aber beständig auf mein Zelt. Ich bleibe noch etwas im mollig warmen Schlafsack liegen, aber als der Regen aufhört, ist es höchste Zeit für mich aufzustehen. Es ist schweinekalt und den Blick zum Himmel hätte ich mir sparen können. In der dorfeigenen Backstube erstehe ich zum Ausgleich und Aufbau des inneren Friedens einige sündhafte Schweinereien. Den „Sacristan“ (einen geflochtenen „Stab“ mit Marzipan und Mandeln) kenne ich schon aus den letzten Jahren, dazu ein Pain au chocolat und ein leckeres mit Himbeermarmelade gefülltes Brioche.
Bereits in Le Cheylard vor einigen Tagen war mir das Angebot eines „Chausson aux Myrtilles“ aufgefallen, das dort angebotene Reststück sah aber wenig appetitlich aus und meine marginalen Französischkenntnisse führten mich auf eine völlig falsche Spur. Denn ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie ein mit Myrte gefülltes Teilchen schmecken sollte. Gestern Abend stieß ich beim ersten Besuch der Dorfbäckerei erneut auf dieses merkwürdige Gebäck, kaufte ein Teilchen, biss skeptisch hinein – und während ich sich auf meiner Zunge der wunderbare Geschmack von Blaubeerkompott breitmachte, fiel mir plötzlich wieder ein, dass eine meiner Lieblingsmarmeladensorten in Frankreich genauso heißt.
Lange Rede – kurzer Sinn – von diesen Blaubeertaschen landen zwei Exemplare in meinen Besitz. So bepackt, reiße ich mich von der einladenden Theke los – es gibt noch einige äußerst faszinierende kleine Obstteilchen mit Creme, aber ich bleibe standhaft, denn man ist ja auch Sportler. Doch das, was ich da in meiner XXL-Tüte nach draußen trage, ist reichlich Körper- und Seelenfutter – in diesem Moment könnte es zu schneien beginnen und ich bin trotzdem ein glücklicher Mensch......

Im Ort sehe ich zu meinem Erstaunen drei junge Reiseradler, die es sich in einem Hotelcafe gemütlich gemacht haben. Doch ich habe meine Teilchen und einhundert harte, aber hoffentlich schöne Kilometer vor mir und verzichte auf den Besuch des Cafes, auch wenn das Interieur durchaus einladend wirkt. Es geht sofort bergauf – und wieder mal auf einer dieser kleinen fast einspurigen Strassen.



Die euphorisierende Wirkung des Einkaufs und des ersten Teilchens (welches ich nach der klassischen Werthers-Echte-Reklame immer sofort zu mir nehme) lässt stark nach, denn es ist saukalt. Zwar muss mein Körper aufgrund der Steigung hart arbeiten und produziert reichlich Hitze, aber an Händen und Füßen wird es doch immer unangenehmer. Das Thermometer am Rad zeigt gerade mal 5 Grad und das ist definitiv nicht das, was ich mir unter einem Frühsommerurlaub in Südfrankreich vorstelle. Aber immerhin – es regnet nicht und abgesehen von der Kälte ist die Fahrt ein einziger Genuss.



Obwohl heute Sonntag ist, verirrt sich (noch) niemand auf meinen Wegen – außer einem Reh, welches gelangweilt auf der Straße lungert und erst in dem Moment panisch verschwindet, als ich mich aus den Pedalen klicke, um ein Foto zu schießen. Was mir schon die vergangenen Tage aufgefallen war, zeigt sich auch heute wieder. Trotz des mäßigen Wetters habe ich eine Fernsicht, die phänomenal ist.



Die Abfahrt hat einige schön zu fahrende Kehren und viele Punkte, an denen man stundenlang stehen könnte, um diese fantastische Aussichten genießen zu können. Doch es ist einfach zu kalt zum Rumstehen und ich habe noch ein gutes Stück Weg vor mir – also geht es weiter schwungvoll hinab ins Tal.





In Langlade weist mich mein Navigationsgerät wieder hinauf auf eine Anhöhe. Nachdem ich drei Kilometer hinaufstampfe, passiere ich an ein Hinweisschild und gerate ins Grübeln – das kann eigentlich nicht die Strecke sein, die ich mir für heute ausgedacht habe. Da fällt mir wieder ein, dass ich gestern Abend nach möglichen Zielen für die unverplanten zwei Resttage gesucht habe und geprüft habe, wie weit Saintes-Maries-de-la-Mer entfernt ist. Dummerweise ist diese Route immer noch aktiv und mein kleiner elektronische Wegweiser will mich direkt ans Mittelmeer führen. Aber für heute habe ich ja andere Pläne, also wird die korrekte Route aktiviert und ich muss die letzten drei Kilometer wieder zurückfahren.



Es geht weiter bergab durch einige noch im Sonntagsschlaf liegende Orte. Plötzlich zweigt die Route ab auf eine Nationalstrasse und ich gerate erneut ins Zweifeln. Doch diesmal ist alles in Ordnung – ich erinnere mich wieder, dass ich die 4- 5 Kilometer auf der ungeliebten Straße auch deshalb gewählt habe, weil es hier nur bergab geht und mögliche Alternativen mit gravierenden Nachteilen wie Mehrkilometer oder landschaftlichen Einschränkungen verbunden wären. Meine Entscheidung erweist sich glücklicherweise als richtig, denn ich komme auf der leicht abfallenden Straße schnell voran und der Verkehr ist vollkommen harmlos. In Balsieges ist es dann vorbei mit der Raserei, die Straße führt hinauf auf die Causse de Sauveterre. Es geht wirklich steil nach oben, gerade auf den ersten 2-3 Kilometern muss ich so hart arbeiten wie selten zuvor auf dieser Tour. Die Steigungswerte liegen oft und lange über meiner „Wohlfühlgrenze“ von 7%, aber mit einem gewissen Gleichmut erstampfe ich Meter für Meter.



Zur Belohnung kommt wenige Meter vor dem „Gipfel“ (der hier kein eigentlicher Gipfel ist) die Sonne heraus und die wärmenden Strahlen nutze ich , um mich mit den Teilchen und einer Tüte Milch zu belohnen. Doch soviel Glück kann in diesem Urlaub nicht ohne Folgen bleiben – kaum habe ich den letzten Bissen Heidelbeerkompott im Mund, verschwindet die Sonne hinter dunklen Wolken und ich weiß, dass ich jetzt die Regenjacke besser anziehen sollte.





Die Causse de Sauveterre ist ein faszinierendes Gebiet, eine hügelige Hochebene mit kleinen Wäldern, winzigen Feldern und Wiesen und kargen Flächen, auf denen Steine am besten zu wachsen scheinen.





Ich wähle nicht den direkten Weg nach Sainte-Enimie, sondern mache einen großen Bogen auf kleinen Nebenstraßen. Ich merke schnell, dass die Bezeichnung Hochebene für die Causse etwas irreführend ist, denn es geht zunächst wieder über hundert Meter bergab, um dann – wie könnte es anders sein – eben diese hundert Meter wieder hinaufzuführen.



Hier oben weht ein kräftiger Wind, der mich aber glücklicherweise meist unterstützt und anschiebt. Ich komme wieder auf die „Hauptstraße“, die nach Sainte-Enimie führt und die folgenden Kilometer geht es nur noch bergab. Zuerst auf perfektem Asphalt und auf kurvenarmer Strecke, so dass ich riskieren kann, es trotz defekten Gepäckträger noch mal richtig rollen zu lassen – bei 77 km/h ist aber dann doch Feierabend, auch weil das gut ausgebaute Teilstück beendet ist und es im weiteren Verlauf immer holperiger wird. Das ist aber leicht zu verschmerzen, denn ich bin inzwischen an der Tarnschlucht angekommen – und von hier oben hat man eine grandiose Sicht auf die Gorges und Sainte-Enimie. Ich muss immer wieder anhalten, um Fotos zu machen und staunend in die Tiefe und Ferne zu starren. Über diverse Serpentinen schwingt sich die Straße entlang der steilen Felswand in die Tiefe.









In Sainte-Enimie ist Flohmarkt, doch es ist kalt und nur wenige Touristen verirren sich heute in den ansonsten sehr lebhaften Ort. Auch ich verzichte heute auf die traditionelle Einkehr im Cafe und mache mich direkt an den Aufstieg auf der anderen Uferseite der Tarn. Im Vorfeld hatte ich vor dieser Steigung einen Höllenrespekt, denn die beiden Male, in der ich die Schlucht durchfahren bin, hatte mich der Blick auf die rasch ansteigende Abzweigung immer nachhaltig beeindruckt. Doch so schlimm ist es dann gar nicht. Einmal den Rhythmus gefunden, tritt es sich fast wie von selbst, zumal viele schöne Blicke in die Gorges immer wieder zu kurzen Pausen einladen.









Als ich einige kurze Serpentinen absolvieren muss, merke ich erst, dass auch der mich kräftig anschiebende Wind sein Scherflein dazu beiträgt, den Aufstieg ohne größere Probleme zu meistern.





Oben angekommen, stehe ich wieder in einer vollkommen anderen Welt. Die Causse Mejan ist um einiges größer als die Causse de Sauveterre von heute vormittag und wird vor tiefen Schluchten umrahmt. Tarn, Jonte und Tarnon begrenzen die Causse – lediglich am Col du Perjuret ist ein kleines Nadelöhr nach „draußen“ - und genau dieser Pass ist mein nächstes Zwischenziel.



Ich habe hier oben eine flache, einsame und karge Landschaft erwartet, doch in der Realität sieht es etwas anders aus. Zwar scheinen auch hier in erster Linie Steine zu wachsen, aber es ist doch erstaunlich grün hier und Weideland und Wiesen wechseln sich mit ungenutztem Brachland ab. Zwischendurch findet man auch immer wieder kleine Baumgruppen oder Wäldchen, wobei wohl ein Brand vor einiger Zeit vielen Bäumen den Garaus gemacht hat – viele Stümpfe stehen jetzt nur noch als karge Mahnmale in der Landschaft.





Flach kann man die Landschaft auch nicht nennen – es geht beständig rauf und runter und manches Mal auch richtig steil. Mein Höhenmesser zeigt mir eine Maximalsteigung von 21 % an. Auch wenn ich diese Information nicht so recht glauben mag, gibt es doch einige kurze Anstiege, die ziemlich happig sind. Doch dank der zügigen Windunterstützung komme ich überall hinauf und gut voran. Ich weiß allerdings nicht, ob ich die Faszination der Causse entsprechend würdigten könnte, wenn ich in umgekehrter Richtung bei diesen Windverhältnissen unterwegs gewesen wäre. Denn hier oben hat man nirgendwo und keinen Zentimeter Ruhe vor dem immer kräftiger werdenden Wind.



Menschenleer ist die Gegend wider Erwarten auch nicht. Immer wieder passiere ich einzelne Gehöfte, Weiler oder sogar kleine Ortschaften – und selbst an einem Flugplatz fahre ich vorbei. Von hier starten quasi im Viertelstundentakt Segelflugzeuge in den Himmel. Das Bild der majestätisch gleitenden Segler beruhigt mich auch etwas – denn zwischenzeitlich wurde es wieder einmal bedrohlich dunkel und ich überlegte mir vorsorglich schon einmal mein Verhalten beim möglichen Aufkommens eines Gewitters. Hier oben bei ich doch häufig meilenweit neben einigen Baumstümpfen die einzige Erhebung weit und breit – und mein durch beharrliche Ignoranz und Halbwissen erworbener Erkenntnisstand ist, dass bei Blitzschlag ein tiefes Bücken in Bodennähe den besten Schutz bieten soll. Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob ich nicht daraufhin vom ersten entgegenkommenden Autofahrer vor Schreck überfahren werde, weil dieser mitten im heftigsten Gewitter urplötzlich einen mit einer pinkfarbenen Regenjacke bekleideten Islamisten gen Mekka beten sieht... Aber dank der Segelflieger am Himmel muss ich mir diesbezüglich keine großen Sorgen machen, denn bei Gewitterwarnung würden diese sicherlich nicht in den Himmel aufsteigen.



Da ist die Sache mit dem Wind ungleich konkreter und auch gefährlicher. Denn der Wind hatte inzwischen Sturmstärke erreicht und zerrt an meiner Kraft und meinen Nerven. Ich habe mal wieder die Fahrtrichtung gewechselt, um zum Col de Perjuret zu gelangen – und jetzt kommt der Wind nicht mehr angenehm von hinten, sondern tückisch von vorne oder der Seite. Einige Male habe ich große Schwierigkeiten, mich auf der Straße zu halten und verschieden Versuche, die Landschaft fotografisch festzuhalten, scheitern an der Unmöglichkeit, das Rad festzuhalten und gleichzeitig mit dem Fotoapparat Bilder zu schießen, ohne das die Kameratasche vor der Linse flattert – und dabei auch noch das eigene Gleichgewicht zu halten.



Bei einer kleinen Kehre reißt mich der Wind plötzlich mit einer solchen Kraft aus der Kurve, dass ich nur mit allergrößter Mühe verhindern kann, einfach umzukippen. Und dann knallt der Sturm permanent auf meine Ohren und übertönt alle anderen Geräusche, so dass ich z.B. Autos erst dann wahrnehme, wenn sie schon halb an mit vorbei sind – was ziemlich gefährlich ist, da ich wie ein Betrunkener schwankend hin und her torkele.



Doch dann ist es endlich geschafft – der Col de Perjuret ist erreicht. Merkwürdigerweise geht es nicht hinauf zum „Gipfel“, sondern ich erreiche den Pass nach einer kurzen Abfahrt, weshalb ich auch ausnahmsweise auf das Gipfelfoto verzichte.



Eine kurze Pause ist aber dennoch nötig, denn mein Gepäckträger hat sich auf seiner defekten Seite etwas Luft verschafft und muss neu gerichtet und festgezurrt werden. Doch dann geht es ruhig an die bereits bekannte Abfahrt nach Meyrueis.



Der Campingplatz ist schnell gefunden und ich ergattere einen relativ windgeschützten Platz. In der Bar erstehe ich eine Flasche gut gekühlten Weißwein – und erst nach dem Zeltaufbau wird mir bewusst, dass heute ein gut temperierter Rotwein oder gar ein „korrigierter“ Tee die bessere Wahl gewesen wäre. Auf ein warmes Abendessen verzichte ich heute, denn bei diesem Wind brauchen meine Nudeln wohl mindestens 30 Minuten, um einigermaßen „al dente“ zu werden (Alternativen sind wegen Sonntag nicht zu bekommen) und ich gerade beschlossen habe, den morgigen Tag zur Rekreation zu nutzen. Nach einer halben Flasche Wein und einer Tüte Chips schlafe ich leicht betüdelt (ich vertrage einfach nichts mehr) ein.


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