Tag 2
Seppois-le-Bas – Saint-Hippolyte (Doubs)
85 km 1256 hm


Nach 12 Stunden Schlaf wache ich entspannt und voller Tatendrang auf. Zwar bin ich etwas unsicher, ob die fehlende Nahrungsaufnahme gestern Abend heute Konsequenzen zeigen wird – aber das werde ich noch früh genug merken (und ändern kann ich es jetzt eh nicht mehr). Der Blick nach draußen lässt meinen Tatendrang jedoch schnell erlahmen, denn zahlreiche Wolken liegen dunkel und schwer in den umliegenden Hügeln. Doch ich will nicht schon am zweiten Tag Frust schieben und schwinge mich nach den üblichen Morgenarbeiten auf den Sattel. Im örtlichen Supermarkt erstehe ich noch schnell den notwendigen Tagesproviant (die Bäckereien haben heute geschlossen) und dann geht es ab. Die ersten Kilometer sind wieder ein sanftes Auf und Ab – und ich fühle wieder einmal mein inzwischen schon traditionelles Zweiter-Tag-Formtief. Die Beine sind schwer und ich komme nicht recht in Tritt. Das Wetter hält sich wacker - zwar habe ich diverse Male das Gefühl, im nächsten Moment müsse ein veritabler Schauer losgehen (die Regenjacke habe ich vorsichtshalber schon ausgepackt), aber es tropft den ganzen Tag nicht einmal.



Dafür gibt es temperaturmäßig eine ziemliche Achterbahnfahrt. Kommt die Sonne mal raus – was nur selten vorkommt – steigt das Thermometer schnell auf über 20 Grad, doch keine zwei Minuten später muss ich mich angesichts von 14/15 Grad meine Klamottenwahl komplett umstellen. Als ich die französisch-schweizerische Grenzregion erreiche, werden die Anstiege länger und steiler. Ich verfluche (auch das schon fast traditionell wie zu Beginn jeder Reise) mein Übergewicht an Körper und Gepäck und nehme mir wieder einmal „ernsthaft“ vor, nach dem Urlaub an der Reduzierung des körperlichen Gewicht zu arbeiten.

In einem Reiseradforum hat vor einiger Zeit ein schlauer Mensch sich darüber beklagt, dass „Radreisen allzu sehr unter dem Quäl-Aspekt beschrieben werden“ - und auch ich kann mich bei meinen früheren Reiseberichten von dieser Einschätzung nicht freimachen. Aber die Frau hat mit ihrer Kritik recht und deshalb hatte ich mir vorgenommen, den Leidensaspekt dieser Radreise möglichst gering zu halten. Doof nur, wenn man bei der ersten heftigeren Steigung dermaßen schwitzt und schnauft und leidet und von Selbstzweifeln geplagt wird, dass einem selber Angst und Bange wird. Während ich mühevoll Meter für Meter erklimme, habe ich die während dieser Reise noch folgenden „Höhe“-punkte im Hinterkopf und frage mich, wie ich das alles bloß schaffen soll? Alle Ausreden wie „zweiter Tag“ und „Gestern-nichts-gegessen“ werden als Entschuldigungsgründe in meiner inneren Gerichtsverhandlung aufgeführt, aber angesichts des totalen Desasters am Berg als nicht ausreichender Erklärungsversuch verworfen. Doch dann – am Ende der Steigung – erblicke ich am Rand der Gegenfahrbahn das Schild „Achtung 20% Gefälle“ und meine Ängste und Befürchtungen sind verflogen.





Zwar zeigt mein Höhenmesser „nur“ 14% Steigung an, was aber in erster Linie daran liegt, das ich die Straße immer und immer wieder von Rand zu Rand kreuze, um mich überhaupt auf dem Rad halten zu können. So tröste ich mich mit dem Gedanken, bei einer solchen Steigung durchaus leiden zu dürfen und nehme mir vor, mich bei den folgenden Steigungen wieder stärker auf die Schönheiten der Natur zu konzentrieren und den Leidensaspekt weitgehend zu ignorieren. Das gelingt mir recht gut und ich spüre langsam das Nahen des uneingeschränkten Urlaubsgefühls. Zwar könnte das Wetter besser sein, aber die Kühle erlaubt ein angenehmes Pedalieren.



Ich befahre irgendwann nur noch ein kleines unbeschildertes Sträßchen – aber mein Navigationsgerät hat mich bisher problemlos geführt (lediglich gestern habe ich mich einmal kurz verfahren, als ich glaubte, eine Streckenanweisung ignorieren zu können) – so dass es keinen Grund gibt, dem Gerät zu misstrauen. Doch dann passiert das Unglück. Das Navi gibt mir nach einer moderaten Steigung einen nicht sofort einsehbaren Abbiegehinweis. Ich biege ab – und sehe einen kleinen asphaltierten Forstweg, der sich schnurgerade auf eine ca. 150 Meter höher gelegenen Straße zubewegt.



Ich bin geschockt und beschließe erst einmal, eine Pause an einer Bank zu machen, die sich zufälligerweise am Fuße der „Horrorsteigung“ befindet. Ich drehe meinen Fuß, um aus den Klickpedalen zu steigen – doch nichts passiert. Obwohl – es passiert doch etwas, denn quälend langsam knalle ich auf den Beton. Der Schreck ist groß, doch glücklicherweise habe ich keinerlei Beschwerden. Vor einigen Jahren bin ich bei einer ähnlichen Aktion mal so unglücklich auf die Schulter geknallt, dass ich diese mehrere Tage nicht mehr bewegen konnte. Also hab ich erst mal Glück gehabt. Der Blick nach unten zeigt mir jedoch eine großflächige martialisch blutende Wunde am Knie. Aber da ich wie gesagt keinerlei Schmerzen verspüre, ignoriere ich diese Unfallfolge und versuche zu ermitteln, wie es zu dem Unfall kommen konnte. Ein Blick auf den Schuh zeigt das Problem. Eine Schraube am Adapter für die Klickpedalen hatte sich gelöst und so drehte sich der Adapter bei der Fußdrehung einfach mit, anstatt sich auszuklicken. Blöd, dass mir das nach drei Monaten Dauereinsatz ausgerechnet heute passieren muss...

Ich sitze also auf der Bank, blute vor mich hin und verdrücke festen und flüssigen Proviant in Massen. Und irgendwann habe ich mir die Steigung so „flachgesehen“, dass ich wild entschlossen bin, den „verdammten Mist“ endlich anzugehen. Es ist schon ziemlich hart und ich muss auch ein kurzes Stück zwischendurch schieben (zum Pendeln zwischen rechtem und linken Rand ist das Sträßchen einfach zu schmal).



Irgendwann bin ich oben denke mir ein (gelogenes) „so schlimm war es doch gar nicht“ und befrage meinen Höhenmesser, der mir eine Maximalsteigung von 16% anzeigt, was schon deutlich über dem liegt, was ich mir steigungsmäßig zutraue.



Ich biege auf die „Hauptstraße“ und empfinde die folgenden 9% als geradezu erholsam und nehme die letzten Meter mit Bravour. Oben angekommen, finde ich schnell meine Abzweigung und rase die steile und lange Abfahrt hinab nach St. Ursache und der Doubles, die mich die restlichen
Kilometer begleiten wird.



Kurz zuvor entdecke ich noch das ominöse Hinweisschild, welches vor Jahren mein Vertrauen in das schweizerische Fernradwegnetz nachhaltig zerstörte.





Doch diesmal geht es nicht hinauf, sondern sanft hinab bis nach Saint-Hippolyte. Eigentlich ein Traum, aber zum ungetrübten Genuss kommt es dann aber nicht, denn ein zuweilen fieser Gegenwind stört doch etwas und zum anderen sind 30 Restkilometer dann doch etwas zu viel für meine heute doch etwas zu stark geforderten Beine. Aber ich lasse mir Zeit und ignoriere die beiden Rennradfahrer, die mich überholen und deren Windschatten sehr verlockend ist. Aber jetzt ist gemütliches Radeln angesagt und keine wilde Raserei. Ich pedaliere nur langsam und lege immer wieder mal Foto- oder Betrachtungspausen ein.





Dann ist Saint-Hippolyte und der örtliche Campingplatz erreicht, der sich kaum verändert hat (was ich als ein gutes Zeichen erachte). Ich baue mein Zelt auf, und starte das abendliche Routineprogramm (Duschen/Einkaufen/Kochen/Essen/Spülen/Schreiben/Hörspiel/Musik/Schlafen), welches nur kurz von zwei Holländern unterbrochen wird, die wandernd die Gegend erkunden und mit denen ich mich kurz austausche.

weiter zu Tag 3
zurück zur Übersicht

Kommentieren